Das Prinzip Hoffnung

Somaliland macht Reisenden ein verführerisches Angebot: Ein Land zu entdecken, das es offiziell nicht gibt. Notizen von einer Fahrt entlang der einzigen Schnellstraße des Landes.
Geschützt vor den Zumutungen der Großstadt empfängt das Maansoor Hotel seine Gäste hinter Mauern und einer Sicherheitsschleuse. Dahinter wartet ein Arrangement aus Bungalows, Konferenzzentrum, ambitioniertem Rasen und kalten Getränken. Im Café wartet Mustafa Ismail. Ob sein Somaliland den Gast gut empfangen habe, erkundigt sich der Diplomat, steht zur Begrüßung auf und blinzelt aus blauen Augen in die Mittagssonne.
Auch Ismail ist zu Besuch, wohnt eigentlich in Göttingen und ist Repräsentant seiner Heimat in Deutschland. Botschafter darf er sich nicht nennen, denn Berlin erkennt Somaliland nicht als unabhängigen Staat an. “Solange wir uns anerkennen, ist es doch zweitrangig, ob andere das akzeptieren”, winkt Ismail ab. Überhaupt, die Menschen hier seien geduldig. “Ohne Hoffnung könnte das alles doch nicht existieren.”
Das kleine Somaliland mit seinen fünf Millionen Einwohnern liegt am Horn von Afrika. Eingezwängt zwischen Dschibuti im Westen, Äthiopien im Süden und den somalischen Rumpfstaat im Osten. 1991 verabschiedet die frühere britische Kolonie nach mehreren Jahren Bürgerkrieg ihre Unabhängigkeitserklärung — die bis heute weder von afrikanischen noch von westlichen Ländern anerkannt wird. Doch Somaliland hat sich bis heute als Republik behauptet.
Der Diplomat Mustafa Ismail ist Gast im Hotel Maansoor, eine der besten Adressen in der Hauptstadt Hargeisa. Das Restaurant serviert internationale Küche, der Geldautomat in der Lobby zahlt Dollar aus, eine Gruppe von Studenten der medizinischen Fakultät feiert an diesem Nachmittag ihren Abschluss. Die Nachrichtenbilder aus dem von Konflikten zerrütteten Somalia scheinen weit weg.
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Am Wasser gebaut

Die Republik Somaliland hat sich 1991 für unabhängig erklärt. Im Gegensatz zu seinen Nachbarländern herrschen dort Demokratie und Sicherheit, weshalb Dubai in der autonomen Region investiert. Doch mit den Investitionen kommen neue Probleme.
Im Hafen von Berbera verlädt ein 50 Meter hoher Schwerlastkran im Minutentakt Container. In wenigen Stunden wird die AS Alva beladen sein und den einzigen Hafen Somalilands Richtung Indien verlassen. Bis vor Kurzem war der Hafen des international nicht anerkannten de facto Staats für solche Schiffe zu klein. Schichtleiter Mohamed Atteye zeigt auf ein Schiff, auf dessen Deck mehrere Kräne sind:
“Damit mussten wir bislang arbeiten. Es ist enorm aufwendig, auf diese Weise Container zu bewegen. Es kostet nicht nur Zeit, sondern ist auch gefährlich. Es gab Knochenbrüche und sogar Todesfälle. Mit dem neuen Kran müssen Menschen die Container nicht mehr anfassen.”
Neben ihm steht der stellvertretende Hafenmeister Mohamad Abdulla, auch er schwärmt:
“Alles hat sich verändert. Die Ausrüstung, die Kräne, all das hat uns vorher gefehlt. Sie sehen es doch selbst. Alles ist modernisiert. Ein Schiff mit 700 bis 1000 Containern können wir jetzt in zehn, vielleicht zwölf Stunden entladen. Wenn es am Morgen einläuft, kann es manchmal am Abend schon wieder abfahren.”
Hinter der Entwicklung am Hafen von Berbera steht DP World. Das Unternehmen aus dem Emirat Dubai hat das Hafenbecken vertieft, den Kai verlängert und modernste Kräne installiert. 442 Millionen US-Dollar investiert das Unternehmen — mehr als der Staatshaushalt Somalilands.
Von Berbera sollen Waren per Lastwagen die 117 Millionen Menschen in Äthiopien beliefern — denn das Nachbarland hat selbst keinen Zugang zum Meer. Und so hoffen die Menschen in einer der ärmsten Regionen der Welt auf ein Wirtschaftswunder.
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Rote Fäden
© Screenshot CCTV
Steckt in deutscher Markenkleidung Baumwolle aus Zwangsarbeit? Eine Spur führt über die Plantagen und Fabriken der chinesischen Region Xinjiang bis in die Lager großer Bekleidungsunternehmen.
Neun Zeitzonen und über 5.000 Kilometer trennen die Innenstädte von Berlin und Hamburg mit ihren Geschäften voller Sport- und Luxusmarken von der chinesischen Region Xinjiang. Und doch sind die Orte miteinander verbunden: Im Nordwesten Chinas wird weltweit gefragte Baumwolle angebaut, geerntet und verarbeitet. Und dieser Recherche zufolge findet sich das daraus gesponnene Garn offenbar in Kleidung deutscher Modemarken: Adidas, Hugo Boss, Puma, Jack Wolfskin und Tom Tailor.
An sich wäre das kein Problem, bestünde nicht der Verdacht, dass die Baumwolle aus Xinjiang durch Zwangsarbeit gewonnen wird. In der chinesischen Region hat die Regierung von Staatspräsident Xi Jinping über Jahre ein industrielles System der Unterdrückung aus Arbeitslagern und Gefängnissen geschaffen. So schuften vor allem Angehörige muslimischer Minderheiten für das chinesische Wirtschaftswunder. Uiguren, Kasachen, Kirgisen und andere, die aus Sicht Pekings die Einheit der Volksrepublik gefährden. In Xinjiang will man sie offenbar umerziehen — und beutet sie dabei auch wirtschaftlich aus.
Wegen dieser Vorwürfe haben die USA seit Januar 2021 den Import von Baumwollprodukten aus Xinjiang unter Strafe gestellt. Deutsche Unternehmen wie Hugo Boss, Adidas und Puma hatten damals versichert, aus der Region keine Baumwolle zu beziehen — oder dies künftig nicht mehr tun zu wollen. Doch wie glaubhaft sind solche Behauptungen angesichts der Tatsache, dass ein Fünftel der weltweit produzierten Baumwolle aus Xinjiang stammt?
Diese Reportage ist das Ergebnis monatelanger Recherche. Eine Reise, Schritt für Schritt entlang eines roten Fadens, der Plantagen in Xinjiang mit Läden in deutschen Innenstädten verknüpft. Sie führt uns in ein Labor im niederrheinischen Jülich und nach Manchester, Istanbul und andere Orte, die nicht genannt werden dürfen. Chemische Analysen, Frachtbriefe, in einem Teppich geschmuggelte Baumwolle und Aufnahmen des Satelliten Sentinel-2 werden eine Rolle spielen.
Wir haben Menschen getroffen, die Opfer von Zwangsarbeit auf den Feldern und in den Fabriken von Xinjiang geworden sind, und einen, der das System von innen kennt. Er sagt, dass er früher selbst verschleppt und gefoltert hat und heute, wie seine Opfer, in Angst vor dem chinesischen Sicherheitsapparat lebt. Und wir sprechen mit einer Person, die seit Jahrzehnten in China arbeitet und überzeugt ist: Wer hier Geschäfte macht, kann nicht ausschließen, dass er von Unterdrückung profitiert.
Diese Recherche wurde mit dem Deutschen Reporter:innen-Preis 2022 ausgezeichnet. Sie war außerdem nominiert für den Deutschen Journalistenpreis 2022 sowie den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis 2022.
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… eine Zusammenfassung der Reportage lesen (ARD — Tagesschau)
… mehr zu Zwangsarbeit in Lieferketten deutscher Unternehmen sehen (ARD — Weltspiegel)
Afghanistan wird dunkel

Etwa 1000 Afghaninnen und Afghanen sind in einem Hotel an der albanischen Adriaküste untergebracht. Darunter viele Journalisten, die eine Exil-Redaktion aufbauen wollen, um das zu berichten, was ihre Kollegen in Afghanistan nicht mehr dürfen.
Ein Strand an der Adriaküste Albaniens. Das Meer ist sanft heute und spült nur in kleinen Wellen über den Sand. Entlang des Ufers ziehen sich mehrstöckige Hotelbauten. Wie eine Mauer aus pastellfarben gestrichenem Beton, die sich erst am Horizont verliert. Klein sehen dagegen die Menschen aus, die in Dutzenden Grüppchen entlang der Strandpromenade schlendern.
„Jeden Nachmittag und jeden Abend laufen die Migranten hier auf und ab“, meint Faisal Karimi. Wenn er von Migranten spricht, meint er auch sich selbst: „Es hilft beim Nachdenken und es ist gut, um sich auszutauschen, um mit der Familie und Freunden zu sprechen. Nach dem Mittagessen spaziere ich mit meiner Frau, am Nachmittag dann mit Kollegen. Mindestens zwei, drei Stunden laufen wir gemeinsam.“
Der 37-Jährige stammt aus Afghanistan. In der abkühlenden Herbstluft zieht er seine schwarze Lederjacke enger um die Schultern, der Wind zerrt an seinem dünnen Haar.
Karimi ist Journalist und einer von mehr als 1000 Afghaninnen und Afghanen, die die albanische Regierung hier an der Küste des Landes untergebracht hat. Nach dem Fall der alten Regierung und der Machtübernahme der Taliban, haben Karimi und die anderen Geflüchteten in Shëngjin ein temporäres Zuhause in einem der vielen Hotels gefunden, die es in dem kleinen Küstenort gibt.
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Von hier bis nach New York
© Sebastian Backhaus
Kateryna Oman hört den Krieg schon gar nicht mehr, obwohl er so nah ist. Besuch bei Menschen an der Frontlinie im Osten der Ukraine
Als das erste Mal an diesem Tag eine Explosion zu hören ist, steht Kateryna Oman am Pavillon der Verliebten. Dort wo sich am Abend die Menschen von Novhorodske treffen, döst im Moment nur eine Katze in der Mittagssonne. “Die liebt nur sich selbst”, sagt Kateryna Oman und lacht, als wäre da eben kein Artilleriefeuer zu hören gewesen.
Auf das erste Grollen folgen zwei weitere Einschläge. Dann Stille. Der Krieg ist nah in Novhorodske. Zwei, drei Kilometer in diese Richtung, schätzt Kateryna und zeigt Richtung Osten. Die Explosionen scheinen nie weit entfernt, doch sie unterbrechen das Leben der Menschen in Novhorodske nicht mehr. Niemand geht langsamer oder schaut besorgt auf, kein Auto hält, kein Gespräch stockt.
Auch die 17-Jährige ist mit ihren Gedanken weit entfernt vom Krieg. Heute ist ihr letzter Schultag. An ihrem weißen Shirt hängen deshalb ein Glöckchen und eine blau-gelbe Schleife in den ukrainischen Nationalfarben. Jedes Mal wenn sie einen Tanzschritt macht, klingt es hell durch den Park. Auf sie und ihre Freunde warten jetzt die großen Sommerferien.
Der Pavillon der Verliebten ist ein kleiner Platz mit Bänken direkt neben dem Kindergarten der Kleinstadt inmitten einer von Bäumen gesäumten Grünanlage. Früher wohnten in Novhorodske 24.000 Menschen, heute sind es halb so viele. Denn auch wenn die Menschen sich an den Krieg gewöhnt haben, schreckt er doch Investoren ab. So verschwanden erst die Arbeitsplätze und dann die Menschen.
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Hölle auf Erden
© Sebastian Backhaus
In Tschernobyl soll das radioaktive Erbe nun ordentlich vermarktet werden, von einer Million Besucher ist bereits die Rede. Kann das gutgehen?
Am Eingang zur Postapokalypse fehlt es an Toilettenpapier und Seife. “My dear tourists”, ruft Irina Smirnova den Besuchern auf dem Weg zu den Toiletten hinterher. “Wer Desinfektionsmittel braucht, kommt bitte zu mir.” Den Mangel geahnt, hebt eine ukrainische Touristin zur Antwort die mitgebrachte Papierrolle in die Höhe. Beide Frauen lachen, als wäre es ein Witz für Eingeweihte.
Die Touristengruppe steht an der Kontrollstation Dytiatky im Norden der Ukraine. Von hier sind es noch 30 Kilometer zu jenem Ort, den Tourguide Smirnova später am Tag als Hölle auf Erden vorstellen wird: Das Atomkraftwerk Vladimir Ilyich Ulyanov Lenin. Zwei Autostunden von der Hauptstadt Kiew entfernt, wurde es nach dem 26. April 1986 als AKW Tschernobyl weltweit bekannt. In dieser Nacht sorgt eine Melange aus menschlichem Versagen und technischen Mängeln des Reaktortyps für eine Explosion in Block 4. Heute schützt eine Sperrzone die Menschen vor dem radioaktiven Erbe des Kraftwerks.
Deren Außengrenze wird jedoch immer häufiger übertreten. 128.000 Besucher haben 2019 Tickets bei einem der vielen Tour-Anbieter gekauft. Nur der Anfang, wenn es nach der ukrainischen Regierung geht. Schon hat Kiew bei der UNESCO beantragt, einzelne Bauten auf dem Gelände als Weltkulturerbe unter besonderen Schutz zu stellen — so soll das Areal für die Nachgeborenen erhalten werden und künftig noch attraktiver für Besucher werden. Eine Million Touristen seien leicht möglich, bekräftigte zuletzt Kulturminister Oleksandr Tkatschenko.
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Sieben Jahre Front
© Sebastian Backhaus
Seit 2014 läuft eine Front durch die Ostukraine, trennt Familien und Freunde, zerschneidet Lebensläufe. Ein Besuch bei Menschen, die dem Krieg dennoch einen Alltag abtrotzen.
Dumpfes Scheppern, nur wenige Kilometer entfernt. Wieder ist ein Stück Ukraine explodiert. Abgefeuert aus den Separatisten-Gebieten zielt die Artillerie auf unsere Seite der Front, die den Osten des Landes zerschneidet. Wo genau, zeigt uns Brigade-Kommandeur Maxim Hryhorovych mit ausgestrecktem Arm. Dann steigt er schnell wieder in seinen Geländewagen. Nicht der Beschuss, sondern einsetzender Regen treiben den Soldaten zum Rückzug.
Ich und die anderen stehen seit fast sieben Jahren an der Front. Wenn wir Angst vor russischen Soldaten hätten, wären wir längst nicht mehr hier.
Hryhorovych führt eine Einheit, die Separatisten, Spione und Saboteure jagt. Die Gegend um die Frontstadt Avdiivka ist für ihn in den letzten Jahren Heimat geworden. Hier und im Krieg hat sich der Mittdreißiger eingerichtet, erzählt er uns abseits der Kontaktlinie — wie die Front genannt wird — in einem kleinen Café.
Im Krieg gibt es keine leichten Schlachten. Jeder Kampf war hart und blutig. Als ich in Pisky in der Nähe des Flughafens von Donezk stationiert war, tat ich mich schwer, meine Familie anzurufen. Ihnen hatte ich gesagt, ich sei in Charkiw und nicht an der Front. Sie anzurufen war also schwer, nicht weil es keinen Empfang gegeben hätte, sondern weil es keine Minute ohne Explosion, Schüsse oder Granatfeuer im Hintergrund gab.
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Krieg der Steine

Der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im letzten Jahr ist nur eine weitere Episode in einer Reihe gewalttätiger Auseinandersetzungen gewesen. Von Historikern und Archäologen wird der Konflikt angeheizt, der fast nur noch Verlierer kennt.
Vor dem Tor des Klosters Amaras liegt seit dem Krieg ein anderes Land. Wo zuvor Armenier lebten, patrouillieren nun Soldaten aus Aserbaidschan. Es ist Ende November 2020 und wir sind auf dem Weg zum Kloster und damit an die Front; wollen verstehen, was Soldaten und Zivilisten in diesem Krieg erlebt haben. Und so schaukelt unser weißer Geländewagen die letzten Meter der Straße zum Kloster hinab.
Derart dicht verläuft die Front entlang der Klostermauern, dass die Bewohner einer nahen Stadt unsicher waren, ob sie uns, die beiden Journalisten aus Deutschland, guten Gewissens dorthin schicken können. Wird der erst vor wenigen Tagen vereinbarte Waffenstillstand halten? Werden die Soldaten schießen? Ist das Kloster vermint?
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Auf der Spur der Drohnen

Der Drohnenkrieg um Bergkarabach hat Soldaten und Zivilisten traumatisiert zurückgelassen — und wurde mit Hilfe deutscher Technologie geführt. Eine Recherche im Kaukasus.
Der Tod, so erzählen es die Nachbarn, kam an einem Fallschirm vom Himmel. Nachts sei es geschehen, vielleicht verschlief Pargev S. also den Moment, in dem eine Bombe die Wände seines Hauses zu Staub zerrieb und das Dach auf ihn stürzen ließ. Ganz so, als halte er sich an den Resten seines Lebens fest, war seine Leiche später nur mit Hilfe eines Traktors aus den Trümmern zu ziehen.
Wochen später, an einem Vormittag im November, ringt die Herbstsonne mit dem Frost der Nacht und zeichnet tiefe Schatten auf die Ruine des Hauses. Artak Sargsyan schaut auf den Schutthaufen, die zersplitterten Holzbalken, die Reste eines Klaviers und Kleidungsstücke, Farbkleckse im Meer zermahlenen Betons. Sargsyan sagt, in dem Flugzeug, das die Bombe auf das Haus seines Nachbarn warf, saß kein Pilot. Er blickt auf die Trümmer wie auf eine Welt, die er nicht mehr versteht.
Am 9. November 2020 endet der bewaffnete Kampf Armeniens und Aserbaidschans um die Region Bergkarabach vorerst. Ein von Russland vermittelter Waffenstillstand friert den Frontverlauf nach 44 Tagen heftiger Kämpfe ein. Zu diesem Zeitpunkt hat die aserbaidschanische Armee auch mit Hilfe moderner Waffensysteme bereits größere Teile Bergkarabachs zurückerobert. Am Ende verpflichtet sich Armenien dazu, mehrere Anfang der 1990er-Jahre eingenommene aserbaidschanische Distrikte zurückzugeben, um im Gegenzug armenisch besiedelte Kerngebiete vorerst behalten zu dürfen.
Artak Sargsyan lebt im Osten des weiter von Armenien besetzten Teil Bergkarabachs. In der Kleinstadt Martuni, die Aserbaidschaner Xocavənd nennen, arbeitet er als Schulleiter. Als Ende September die ersten Schüsse fallen, wird Sargsyan einberufen und muss an Front. Im Schützengraben ist der 39-Jährige für mehr als zwei Dutzend Männer verantwortlich und erinnert sich vor allem an die eigene Ohnmacht. “Der Krieg war furchtbar”, erzählt er. “Einmal schlug in meiner Nähe eine Rakete ein. Niemand wusste, wer den Tag überleben würde und wer nicht.” Nach den Gefechten vom Sommer 2016 ist es für Sargsyan bereits der zweite Kriegseinsatz. Doch dieses Mal ist alles anders.
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Fixer im Krieg

Sie riskieren ihr Leben damit Menschen fernab ihrer Heimat von Kriegen und Krisen erfahren, Anerkennung bleibt ihnen aber häufig versagt: sogenannte Fixer. Sie organisieren, fahren, übersetzen, Auslandsberichterstattung ist ohne sie kaum denkbar.
Im Konflikt um Bergkarabach haben wir Norayr Iskandaryan begleitet. Vor dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan war der 30-Jährige Simultanübersetzer. Mit uns fährt er an die entscheidenden Orte des Krieges und erzählt, wie es war unter Lebensgefahr zu arbeiten und wie der Krieg ihn für immer verändert hat.
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Trümmerland

Der Waffenstillstand vom 9. November hält in Bergkarabach. Nach 44 Tagen Krieg mussten die Armenier rund die Hälfte ihrer Gebiete an Aserbaidschan übergeben. Nun herrschen Trauer, Wut und Verzweiflung vor. Ein Besuch im Trümmerland.
Artak Sargsyan guckt nachdenklich durch das Loch in seinem Wohnzimmer. Der 39-Jährige hatte Glück, das weiß er. Die von aserbaidschanischen Streitkräften abgefeuerte Rakete traf nicht ihn oder seine Familie, sondern lediglich Fernseher und Waschmaschine.
Vier Geschosse haben das Grundstück getroffen und großen Schaden angerichtet. Hier und dort ist eins eingeschlagen. Deswegen kann ich diesen Teil des Hauses nicht zeigen, aber ihr könnt ihn durch das Loch in der Wand sehen.
Sargsyan führt uns durch den Flur seines Hauses. Er wohnt in der Kleinstadt Martuni, die die Aserbaidschaner Xocavənd nennen. Nur wenige Kilometer entfernt verlief die Front. Dort haben bis vor kurzem Armenier und Aserbaidschaner um jeden Zentimeter Boden gerungen. Beide Länder beanspruchen die Kontrolle über die Kaukasus-Region Bergkarabach. Auch der Armenier Sargsyan, in friedlicheren Zeiten Schulleiter, stand im Schützengraben.
… vollständige Reportage hören (Deutschlandfunk Kultur — Weltzeit)
Die Toten von Zarzis

Die Abschottungspolitik der EU und der Krieg in Libyen führen dazu, dass immer mehr Menschen versuchen, über Tunesien nach Europa zu gelangen. Auch dies ein gefährlicher Weg. Die Fischer von Zarzis sind jetzt auch Totengräber für die Ertrunkenen.
Anfang Juni ertrinken vor der tunesischen Küste mehr als 60 Menschen bei dem Versuch, Italien zu erreichen. Wenige Tage später melden die Vereinten Nationen einen Rekord: Fast 80 Millionen Menschen sind mittlerweile auf der Flucht, ein Prozent der Weltbevölkerung.
Wie es ihnen dabei ergeht, hängt auch mit uns zusammen. Denn: Nicht erst seit dem Ausbruch der Pandemie versucht Europa sich abzuschotten. Betreibt eine Politik, die zusammen mit dem Krieg in Libyen mehr und mehr Migranten ins benachbarte Tunesien drängt. Die Hoffnung auf ein besseres Leben geben sie auch dort nicht auf — und so bergen tunesische Fischer immer wieder die Körper der Ertrunkenen. Den schlimmen Bildern trotzend, haben viele von ihnen eine Haltung entwickelt, die den Toten eine Würde verleiht, die sie im Leben nicht kannten.
Was machst du hier, mein Kamerad? Ding, Ding Wer brachte dich her durch bösen Verrat? Ding, Ding
Der Zeigefinger von Mohsen Lihidheb rutscht Zeile für Zeile hinab, den Worten seines Gedichts folgend. Konzentriert, als würde er es zum ersten Mal aufsagen. Mit gesenktem Kopf, als zöge ihn das Erinnern an die Toten hinab.
Ist das das Boot, das dich betrog? Ding, Ding Oder war’s der Schlepper, der dich belog? Ding, Ding Wie die Kinder in Mütters Armen ertranken. Ding, Ding Europas Völker den Schleppern danken. Ding, Ding
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Was für ein Frieden

Der Islamische Staat macht Jagd auf Afghanistans Schiiten — und der sich anbahnende Verhandlungsfrieden zwischen Regierung und Taliban könnte alles noch schlimmer machen. Droht dem Land nun eine Spaltung entlang religiöser Bruchlinien?
Fünf Männer stehen im Schatten eines Baums und blicken auf die Moschee und ihre himmelblauen Kuppeln. Um ihre Schultern hängen Gewehre, die älter als die jungen Männer sind. Die holzverkleideten Griffe der Waffen haben sich dunkel verfärbt vom Schweiß nervöser Hände, ihre zerkratzten Läufe erzählen vom Krieg. Die Wachen haben an diesem Morgen in Taschen und Rücksäcke geschaut, Kofferräume geöffnet und Fragen gestellt. Jetzt treiben die kräftige Sonne und der Ruf des Mullahs die Gläubigen in die Moschee, und der von einer hohen Steinmauer gerahmte Hof bleibt leer zurück. Nur die Kinder spielen weiter. Sie haben sich längst an ihre Beschützer und deren Waffen gewöhnt.
Die Daimirdadiha-Moschee liegt im Westen der afghanischen Hauptstadt Kabul. Die meisten Mitglieder der schiitischen Gemeinde stammen aus der Nachbarprovinz Wardak. Heute haben sich im ersten Stock des Gotteshauses rund 200 Männer versammelt, die der Geschichte von Zainab und der Schlacht von Kerbala lauschen. Unter den kratzigen Sound des Verstärkers mischt sich ihr vielstimmiges Schluchzen. Die Finger mit schweren Lapislazuli-Ringen besteckt, in den Händen Gebetsketten, schämen sich die Schiiten ihrer Tränen nicht. Sie erinnern an die für sie gebrachten Opfer, wie es die Tradition an Arba‘in verlangt.
Es ist Mitte Oktober, der Trauermonat Muharram ist gerade zu Ende gegangen. Die Schiiten atmen auf — anderes als befürchtet, blieb ein Anschlag auf ihre religiöse Feier aus. Nach dem Ende des Gebets tritt Haji Masjidi Nuri ins Freie. Staub und Smog flimmern über dem beigen Häusermeer Kabuls und tauchen die afghanische Hauptstadt in ein goldenes Licht. Die von Tränen geröteten Augen des 76-jährigen Gemeindevorstehers bedeckt ein feiner Schleier, die Falten in seinem Gesicht bezeugen ein langes Leben und frische Sorgen. “Bis zu fünf Wachleute sichern die Moschee”, sagt er und blickt zu den jungen Männern mit ihren Kalaschnikows.
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Die letzte Gipfelruhe

Afghanistan durchleidet eine Welle der Gewalt, wie lange nicht mehr. In der Hochlandprovinz Bamiyan, haben sich die Menschen einen kleinen Frieden bewahrt. Nun wächst ihre Angst vor einer Rückkehr der Taliban.
Die aufgeregten Schreie hunderter Kinder durchschneiden die langsam weichende Kühle des Oktobermorgens. Der Hall trägt ihre Rufe hoch die steilen Felswände und in die Weite der Landschaft. Hier, in der zentralafghanischen Provinz Bamiyan, ist ein Spektakel angesetzt, das so ungewöhnlich ist wie seine Kulisse: Der Afghanistan-Marathon.
Gerahmt von der unwirklichen Landschaft des Band-e-Amir, Afghanistans einzigem Nationalpark, warten im Schatten Dutzender Klein- und Reisebusse rund 800 Afghanen auf den Startschuss. Frauen und Männer laufen gemeinsam und stemmen sich so gegen eine Gesellschaftsordnung, die den Geschlechtern klare Rollen zuweist und deren Überschreitung harsch sanktioniert.
„Wir laufen zusammen und haben gemeinsam Spaß“, lacht Ahmad Shekip. Athletische Figur und unbekümmerter Blick verraten die selbstbewussten Ambitionen des jungen Afghanen, der zum vierten Mal teilnimmt. Für die 15-jährige Arezo ist es hingegen der erste Marathon. In der Stimme der Schülerin ringen Aufregung und Schüchternheit miteinander, ehe es doch aus ihr herausbricht: „Am liebsten würde ich immer laufen, jeden Marathon mitmachen“ Und sie erhält Unterstützung von daheim: „Meine Eltern haben sofort zugestimmt und mich sogar motiviert, weiterzumachen. So werde ich stark, sagen sie.“
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Letzter Kampf gegen Kinderlähmung

Weltweit ist Kinderlähmung weitgehend besiegt. Nur in zwei Ländern kommen die wilden Polio-Viren noch gehäuft vor: Afghanistan und Pakistan. Das hat viel mit den Taliban zu tun, aber nicht nur.
Schwer fällt die gepanzerte Tür des weißen Geländewagens ins Schloss. Ohne kugelsichere Autos fährt hier niemand raus vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Es ist zu gefährlich, immer wieder kommt es in der Gegend zu Gefechten zwischen afghanischer Armee und Taliban.
Die Aufgabe der Mitarbeiter von UNICEF heute: Hier in der südafghanischen Provinz Kandahar so viele Kleinkinder und Neugeborene wie irgend möglich gegen Polio impfen. Und davon gibt es viele, denn Afghanistan ist eines der jüngsten Länder der Welt. Zwei Drittel der Menschen sind unter 25 Jahren.
„Ich überwache die Impfkampagne hier“, sagt die junge Afghanin Shamzia. „Wir haben damit begonnen, jedes Kind zu impfen. Es ist unsere Pflicht, hier regelmäßig vorbeizuschauen und nicht aufzuhören, bevor wir alle erreicht haben. Nach der Kampagne überprüfen wir alle Haushalte noch einmal. Das dauert drei Tage. Dazu benötigen wir Autos, Impfpässe und weitere Ausrüstung. Wenn es keine Kampagne gibt, führen wir Routineimpfungen aus.“
… vollständige Reportage hören (Deutschlandfunk Kultur — Weltzeit)
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Atlas des Arabischen Frühlings

Was ist seit dem Arabischen Frühling in Nordafrika und Nahost vor zehn Jahren passiert und wie haben die Umbrüche die Region für immer verändert? Eine Spurensuche in zehn Episoden.
Gemeinsam mit den Autorinnen und Autoren des Magazins zenith hat sich Younes Al-Amayra, Mitglied des Satirekollektivs Die Datteltäter, auf eine Spurensuche begeben. Sie nehmen die Umbrüche in Tunesien, Libyen, Syrien, Ägypten und ihren Nachbarländern unter die Lupe und sprechen mit Expertinnen und Experten sowie Akteurinnen und Akteuren, um die Entwicklungen in der Region besser zu verstehen.
Dabei beschäftigen sie sich auch mit den überregionalen Folgen — von Demokratisierung und Machtwechsel über Bürgerkriege bis hin zu Fluchtbewegungen. Die Veränderungen, die mit dem Arabischen Frühling ihren Anfang nahmen, haben tiefe Spuren hinterlassen. In zehn Episoden werden die historischen Umbrüche erfahrbar. Und es zeigt sich auch, wie stark Europa mit der arabischen Welt in Verbindung steht.
… vollständige Reportage sehen (Bundeszentrale für politische Bildung)
… zum gedruckten “Atlas des Arabischen Frühlings” (Bundeszentrale für politische Bildung)
Die militarisierte Gesellschaft

Wer in Berg-Karabach aufwächst, entkommt dem Krieg nicht: Weil Armenien und Aserbaidschan seit fast 30 Jahren dort um diese Region kämpfen. Und auch wenn seit Kurzem wieder verhandelt wird — der Krieg in den Köpfen bleibt.
In dem kleinen Dorf Togh, im Süden Berg-Karabachs, baut Karine Zakharyan an der Zukunft ihrer Heimat. Die gelernte IT-Managerin hat vor Jahren ihren Spitzenjob in Moskau aufgegeben, um in der Nähe ihres Geburtsortes ein neues Leben zu beginnen:
Als mein Sohn aus dem Haus war, bin ich zu meinen Chefs bei Microsoft gegangen und habe ihnen mitgeteilt, dass ich gehen muss. Sie waren überrascht und haben mich zwei Monate lang gefragt, ob ich verrückt bin. Ich habe gesagt, ich brauche meine Freiheit. Ich will nicht mehr in einem großen Konzern arbeiten.
Rund eine Autostunde von der Hauptstadt Stepanakert entfernt will Zakharyan eine Reihe verfallener Steinhäuser zu Ferienwohnungen umbauen — mit großen Fenstern, die einen freien Blick auf die gebirgige Landschaft des Südkaukasus erlauben. Bislang kommen nur wenige Touristen nach Berg-Karabach, doch Zakharyan will das ändern — etwa, indem sie ein Weinfest organisiert:
Es gibt ein sehr großes Potential in dieser Region. Als wir das erste Weinfest in Togh veranstaltet haben, haben die Dorfbewohner nicht verstanden, was wir hier machen. Sie hatten richtiggehend Angst davor. Sie sind umgeben von dieser wunderschönen Natur, aber realisieren nicht, dass sie im Paradies leben, aus dem man etwas machen kann. Im vergangenen Jahr, beim fünften Festival, haben die Dorfbewohner mitgetanzt. Das hat mich sehr glücklich gemacht. Ich habe mein Ziel erreicht.
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Am Pranger
© Rajiv Raman
Sie haben für Frauenhäuser und gegen Täterschutz gekämpft. Dass die Erfolge jordanischer Aktivistinnen im Kampf gegen häusliche Gewalt und Ehrenmorde in westlichen Medien kaum gewürdigt werden, ist auch die Schuld einer grandiosen Lügengeschichte.
Im Oberschenkel steckt der kräftigste Knochen des menschlichen Körpers. Ihn zu brechen bedarf absurd viel Gewalt. Bestialischer Gewalt, der Dania* ausgesetzt war. Zerstörte Beine, gequälte Seele. Die Haut der Jordanierin wirkt dünn, erinnert an recyceltes Papier und ist ebenso fahl. Der weite Hidschab lässt ihren Kopf groß und schwer erscheinen, wie die Erinnerungen, die in ihm Platz finden. “Ich musste erst lernen, mich für das, was passiert ist, nicht zu schämen”, sagt sie schließlich und blickt in den Raum, in dem sie genau das gelernt hat.
Dania ist 39 Jahre alt und wurde von ihren Brüdern misshandelt, musste um ihr Leben fürchten. Für das Gespräch ist sie in das Dar Al-Wefaq zurückgekommen, das 2007 eröffnete. Es ist das erste und älteste Frauenhaus Jordaniens — irgendwo im Osten der Hauptstadt Amman. Wo es genau steht, darüber darf nicht geschrieben werden. Auch Journalisten bekommen hier eigentlich keinen Zutritt.
Denn das Dar Al-Wefaq ist für viele Jordanierinnen der letzte Zufluchtsort vor der Gewalt einer von Männern dominierten Gesellschaft, die das Ideal der reinen, durch ihr züchtiges Verhalten die Familienehre bewahrenden Frau zwar auf Händen trägt, deren Rechte sie aber oft genug mit Füßen tritt. Viele Jordanierinnen fliehen vor Gewalt innerhalb der eigenen Familie ins Al-Wefaq — in wochenlanger Arbeit helfen ihnen Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen und Therapeutinnen dann dabei, eine sichere Rückkehr zu ermöglichen. Wenn es gar nicht anders geht, unterstützen sie sie bei einem Neuanfang außerhalb des eigenen Hauses.
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Unter Spannung

Vier Jahre nach dem großen Erdbeben besuchen so viele Menschen wie nie zuvor Nepal. Sie kommen in ein Land, dessen Natur, Bewohner und Politiker vom Massentourismus überfordert sind — während sich tief im Erdinneren die nächste Katastrophe anbahnt.
Am Ende ergibt sich auch die Göttin des Himmels den seismischen Stößen. Die Sagarmatha, so nennen die Nepalesen Mount Everest, wird am 25. April 2015 von einem Erdbeben um drei Zentimeter nach Südwesten verschoben. Andere Gebirgskämme sacken mehr als einen Meter ab und 7,5 Kilometer unterhalb des Everest, in der Hauptstadt Kathmandu, kollabieren wie in weiten Teilen Nepals die Stupas und Wohnhäuser. 9000 Menschen verlieren ihr Leben, Zehntausende überleben schwer verletzt.
Die großen Katastrophen teilen die Welt in ein davor und ein danach. Von dieser Demarkation erzählen Risse in den Fundamenten nepalesischer Häuser und in den Biographien ihrer Bewohner. Wo warst du damals? Glücklich, wer noch antworten kann. Glücklicher noch, wessen Wände noch stehen. Es sind Frakturen, die vier Jahre nach dem Erdbeben noch immer zu spüren sind.
„Ich hatte Angst, schrie und weinte“, erinnert sich Sonam Chhomo Tamany. Die junge Frau sitzt auf einer Bank vor der Namaste Lodge, die sie gemeinsam mit den Schwiegereltern führt. Ihr schwarzes, krauses Haar hat sie zurückgebunden, ein silberner Ohrstecker reflektiert das Morgenlicht, vor der nur langsam weichende Kühle der Nacht schützt sie ein dicker Pullover. Hier, das ist Kutumsang, eine Tagesreise nordöstlich von Kathmandu und 2500 Meter über Null, wo sich am Zugang zum Dach der Welt ein kleines Dorf tapfer in den Hang krallt.
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Dampfloks in Burma
© Rajiv Raman
Ein paar zugbegeisterte Fotografen lassen die letzten betriebsfähigen Dampfloks durch Burma rollen und inszenieren das Land als nostalgischen Sehnsuchtsort, den es längst nicht mehr gibt.
Beinahe hätte der Mann mit dem Strohhut den am Bahnübergang wartenden Ochsenkarren übersehen, der für ihn den Unterschied zwischen einem guten und einem sehr guten Motiv ausmacht. Aber eben nur beinahe. „Kyi Kyi“, Bernd Seiler hält die Sprechtaste seines Funkgeräts gedrückt und lässt den noch ahnungslosen Bauern und sein Viehgespann dabei nicht aus den Augen: „Bring den Karren zum Gleis, sprich mit dem Mann.“ Auf der anderen Seite des Bahnübergangs setzt sich die burmesische Dolmetscherin in Bewegung. Seiler steht auf einer Trittleiter und schaut prüfend zu seiner Assistentin hinüber, zufrieden für den Moment. Dann dreht er sich herum und kündigt seiner Reisegruppe an, „Gentlemen, es folgt eine weitere Zugdurchfahrt. We will have another run!“
Es ist Mitte Dezember, Winter in Burma und die 25-köpfige Touristentruppe schwitzt. Einige Kilometer nordwestlich der Metropole Rangun ist der bengalische Golf bereits so weit entfernt, dass kaum kühlender Wind über die aufgeheizte Landschaft streicht. Doch nicht nur die dreißig Grad machen Seiler und den anderen zu schaffen: An Nacken, Schultern und Hüfte zerren viele Kilogramm Fotoausrüstung, die nun rasch in Stellung zu bringen sind. Denn Kyi Kyi, die Übersetzerin, hat das nächste Spektakel schon organisiert. Der Bauer hat von ihr Anweisungen und Geldscheine bekommen und steht nun bewegungslos, um Authentizität bemüht und etwas ratlos blickend mit seinem Ochsenkarren am Bahngleis, als ein schrilles Pfeifen über das gedämpfte Gemurmel der Fotografen fegt und sich in rund hundert Meter Entfernung eine der letzten Dampfloks Burmas schwerfällig in Bewegung setzt.
„Das ist nichts anderes als Hollywood“, zuckt Seiler mit den Schultern und wenn das stimmt, dann ist der gebürtige Ostberliner nicht nur Reiseleiter, sondern auch Regisseur und als solcher heute für zwei Dutzend Kameramänner verantwortlich. „Man kann in Burma Szenen nachstellen, die es so vor zwanzig, dreißig Jahren gegeben hat“, sagt er, und dann, anerkennend, „es gibt immer noch Ecken, wo kein Mobilfunkmast in der Gegend steht, wo keine Reklame ist. Und die Strecken sind größtenteils unangetastet. Alles verkrautet und mit mechanischen Signalen ausgerüstet.“
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